[Shortstory] In die Jahre gekommener Mann

Und die junge Frau

>>Hallo, sind Sie aus Schnattnang?<< fragte der vornüber, fast schon bäuchlings ins Nichts hängende, in die Jahre gekommene Mann die junge Frau, die unten vorbei schritt. Er hing über die Brüstung einer kleinen Fußgängerbrücke, die jedoch nichts überbrückte. Keine Straße zumindest. „Unten“ ist in diesem Fall auch ziemlich weit hergeholt würde man sagen, denn aus der Perspektive des Mannes war unten eben oben, aber seine Welt stand ohnehin Kopf.  

Erst gestern sank er auf den Boden diverser Weißweinflaschen und spülte seine Traurigkeit im tiefschwarzen Schlund herab, so wie fast jeden Abend der letzten Monate. Jahre. Sagen kann man das nicht mehr so genau, Erinnerung verblasst wenn alkoholgeschwängerte Träume sich mit übernächtigter Realität vermischen und dröger Alltag dazwischen funkt. 

Aber zurück zu Herrn Absturz und sein Aufeinandertreffen mit der jungen Frau. Wäre er in anderer Verfassung, hätte er von Koinzidenz gesprochen und dass das Universum einen Plan haben muss, wenn man schon so vornüber an einer Brücke hängt und plötzlich diese junge Frau da auftaucht, in diesem Moment, einfach magisch - aber so fiel ihm das natürlich nicht ein.

Nun, wie er da so hing, die junge Frau erblickte, ansprach und diese fast an einem Herzinfarkt verendete, da konnte man dieser Szene fast schon etwas wirklich Schönes abgewinnen, ja, unterstellen. >>Die spröde Zerbrechlichkeit des Lebens<< hätte hier ein Arbeitstitel lauten können. 

Die junge Frau erstarrte einen Moment, als sie die Stimme hinter sich hörte. Sie drehte sich langsam um, und ihr Blick traf auf den Mann, der wie ein schlaffer Sack über der Brüstung hing. Seine Augen wirkten trübe und müde, und sein Gesicht war von den Jahren des Lebens gezeichnet.

"Schnattnang?" wiederholte sie, ein leichtes Stirnrunzeln auf ihrem Gesicht. "Ja, ich komme aus Schnattnang. Warum?"

Der Mann lächelte müde und richtete sich etwas auf, wobei er sich mühsam an der Brüstung abstützte. "Ich wusste es", murmelte er mehr zu sich selbst als zu ihr. "Ich konnte es an deinem Gang erkennen. Du hast denselben Gang wie sie."

Die junge Frau betrachtete ihn skeptisch. "Wen meinst du mit 'sie'?"

Der Mann schüttelte leicht den Kopf, als würde er versuchen, klare Gedanken zu sammeln. "Entschuldige meine Verwirrung", sagte er schließlich. "Es ist nur... du erinnerst mich an jemanden, den ich kannte. Vor langer Zeit."

Die junge Frau spürte, wie eine unangenehme Gänsehaut über ihren Rücken kroch. "Ich sollte wohl besser gehen", murmelte sie und machte Anstalten, sich abzuwenden.

Doch der Mann hielt sie zurück, seine Hand ausstreckend. "Bitte warte", flehte er. "Es tut mir leid, wenn ich dich verunsichert habe. Es ist nur... ich habe eine Bitte an dich."

Die junge Frau zögerte einen Moment, bevor sie sich langsam umdrehte und den Mann ansah. "Was für eine Bitte?“

Der Mann holte tief Luft, und für einen Moment schien es, als ob er seine Fassung verlieren würde. Doch dann sprach er mit fester Stimme: "Kannst du mir helfen, meinen Frieden zu finden? Kannst du mir helfen, meinen Weg zu beenden?"

Die junge Frau war verwirrt. "Was meinst du damit?" Der Mann lächelte traurig. "Ich habe hier so lange gehangen, gefangen zwischen den Erinnerungen an mein vergangenes Leben und der Angst vor dem, was danach kommt. Aber ich bin bereit loszulassen. Ich brauche nur jemanden, der mir hilft, den letzten Schritt zu gehen."

Ein Schauer lief der jungen Frau über den Rücken, als sie die Worte des Mannes hörte. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und Lyrik kam ihr in den Sinn. 

>>Wie die Nacht einfach jeden Umlauftag über die Dächer zieht, mit ihren funkelnden Augen >>Hallo<< sagt und mich in ihrem schwarzen Schlund ganz nach unten saugt, so als ob wir Eins wären und nichts dazwischen käme, nicht mal Hoffnung.<<

Doch dann, plötzlich, durchzuckte sie eine Erkenntnis. "Natürlich", sagte sie leise, ihre Stimme fest und entschlossen. "Ich werde dir helfen."

Und mit diesen Worten reichte sie dem Mann ihre Hand und gemeinsam betraten sie das Unbekannte, während sich die Sonne langsam hinter den Horizont ertrank und die Welt in Dunkelheit stürzte.

⁄Ende