Ein öffentlich-rechtliches Social Network?

Ich bin heute durch eine Überschrift, ich denke bei Rivva (Update: ja, hier), auf das Thema Brauchen wir in Anbetracht der aktuellen weltweiten politischen Entwicklungen ein öffentlich-rechtliches Social Media Netzwerk (und ich nenne das einfach mal so) aufmerksam geworden - Oder ist das alles quatsch? Und finde das hochspannend und weiß, dass sich u.a. in diesem Podcast auch mit dieser Frage beschäftigt wird.

Demokratische Risiken etablierter Plattformen

In den letzten Jahren haben sich soziale Netzwerke zunehmend als schwarzes Brett und manchmal Blaupause politischer Debatten erwiesen – oft unter Kontrolle weniger mächtiger Akteure. Die Übernahme von Twitter (heute „X“) durch Elon Musk und die Einführung von Donald Trumps „Truth Social“ sind symptomatisch für eine Entwicklung, in der Meinungsräume fragmentiert und von persönlichen Agenden (und Agenten) geprägt werden. Kritiker warnen, dass private Plattformen „nicht garantieren können, Orte für demokratischen Austausch zu sein“ – Geld und Algorithmen dominierten Debatten, Filterblasen verstärkten Hass und Falschinformationen[1][2]. Auch die EU-Kommission mahnt, dass X Desinformation und Hass „wilde Laufen“ lässt und damit gegen die neuen Regeln des Digital Services Act (DSA) verstößt[3][4]. Thierry Breton fasst die Sorge folgendermaßen zusammen: Früher hätten blaue Häkchen „vertrauenswürdige Informationsquellen“ signalisiert – heute würden sie Nutzerinnen irreführen und gegen die DSA verstoßen[4:1]. Solche Beispiele verdeutlichen, wie sehr soziale Netzwerke mit dem Geschäftsmodell der Maximierung von Interaktionen arbeiten: Inhalte, die Emotionen und Teilbarkeit anheizen, werden algorithmisch bevorzugt, während Qualitätskriterien wie Genauigkeit oder Gemeinwohlaspekte zurückstehen[5].

Gleichzeitig zeigen Untersuchungen zur politischen Instrumentalisierung, wie Desinformationskampagnen und KI-gestützte Propaganda gezielt dazu führen, dass aus Einzelmeinungen Echokammern entstehen. Die "Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik" etwa konstatierte, dass koordinierte Kampagnen zu „personalisierte[n] Informationsblasen“ führen, die Polarisierung und Radikalisierung befördern[6]. All dies erhöht das Risiko, dass Online-Debatten nicht länger ein pluralistisches Abbild der Gesellschaft sind, sondern die eigenen Vorurteile und Extrempositionen bestätigen. Unumstritten ist: Wahlen werden „heute schon in den sozialen Medien entschieden“[1:1], sodass jede Verzerrung oder einseitige Moderation massive Konsequenzen für die Demokratie haben kann.

Herausforderungen für Öffentlich-Rechtliche in den sozialen Medien

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ARD und ZDF geraten in diesem Umfeld in eine schwierige Lage. Sie sind darauf angewiesen, ihre Inhalte online zu verbreiten und mit der Gesellschaft in Kontakt zu treten, treffen dabei aber auf Plattformen, deren Interessen oft anders gelagert sind. Medienwissenschaftlerinnen warnen, dass bei algorithmischer Selektion in sozialen Netzwerken nicht mehr das „Public Value“ – also Inhalte, die auf Gemeinwohl und Informationsvielfalt abzielen – im Vordergrund stehen, sondern der „Personal Value“[5:1]. Anders gesagt: Was Nutzerinnen emotional anspricht, wird belohnt, nicht unbedingt das, was dem öffentlichen Diskurs dient. Die Folge kann sein, dass journalistisch wohl erarbeitete Beiträge schlechter verbreitet werden als reißerische oder polarisierende.

Laut einer Studie des Otto-Brenner-Instituts steht eine solche „Ausrichtung journalistischer Angebote an Nutzungsdaten von Plattformen“ im klaren Widerspruch zu deren Unabhängigkeit[5:2]. Öffentlich-rechtliche Sender können die Algorithmen von Facebook, TikTok & Co. nicht kontrollieren, sind aber von deren Sichtbarkeitslogiken abhängig. ZDF-Intendant Norbert Himmler mahnt: Derzeit fehle ein „geschützter Raum“ für Bürgerinnen-Dialog, der nicht von internationalen Plattformen, unbekannten Algorithmen sowie Hass und Desinformation dominiert werde[7]. ZDF-Verwaltungsratsvorsitzende Malu Dreyer[8] ergänzt, dass eine Verständigung auf Faktenbasis und demokratischen Grundwerten immer „massiver angegriffen“ werde[7:1]. In diesem Sinne halten sich ARD und ZDF mit Kritik an den Plattformen nicht zurück – dennoch bleibt ihnen oft nur die Lösung, breit gestreute Kommentare zu posten und auf externe Moderationswerkzeuge zu hoffen.

Öffentliche Plattformen als Alternative

Vor diesem Hintergrund wächst die Forderung nach einem öffentlich-rechtlichen sozialen Netzwerk, das anders funktioniert als die klassischen Plattformen. Eine wachsende Zahl von Stimmen aus Politik, Zivilgesellschaft und Medien schlägt vor, ein solches Netzwerk nach dem Vorbild des Rundfunks aufzubauen – unabhängig von kommerziellen Interessen und politischer Einflussnahme. Die Grünen diskutieren etwa die Idee eines vierten Kanals neben ARD, ZDF und Deutschlandradio, finanziert aus dem Rundfunkbeitrag ohne Gebührenerhöhung[9]. Auch die SPD in Minden-Lübbecke forderte einen „Netzwerkrat“ aus Parlamentarierinnen, Gewerkschaftsvertretern, Kirchen, Wissenschaft und anderen, um die Unabhängigkeit zu sichern[2:1]. Eine Campact-Petition für ein europaweites Netzwerk konkretisiert Kriterien: Die Finanzierung müsse über öffentliche Hand und demokratische Gremien laufen (keine Werbung, keine Investoren), und es brauche transparente Regeln für Moderation und Fact-Checking[1:2].

Solch ein öffentlich-rechtliches Netzwerk soll nach dieser Vision „freie und faire Meinungsäußerung“ ermöglichen[10]. Zentral dabei ist Transparenz: Teilnehmerinnen sollen verstehen können, nach welchen Maßstäben Inhalte gefiltert oder gelöscht werden. Gleichzeitig soll extremistischen oder kriminellen Inhalten konsequent entgegengetreten werden[1:3]. Ein wichtiger Aspekt ist Mehrsprachigkeit: Die Petition fordert eine hochwertige Übersetzungsfunktion, um Sprachbarrieren zu überwinden und den Austausch zwischen allen Europäer:innen zu fördern[1:4]. Die zentrale Idee ist ein „Digital Open Public Space“ (DOPS) – ein digitaler öffentlicher Raum im gemeinwohlorientierten Sinne[7:2], als Gegenpol zu den privatwirtschaftlichen Algorithmenriesen. Der im Eingangstext verlinkte ÖRR-Experte Gavin Karlmeier (folgt mir auch auf Insta) („LÄUFT“-Podcast) bringt es auf den Punkt: Auf der re:publica 2025 wurde gefragt, ob soziale Netzwerke von Tech-Milliardären noch als Ausspielkanäle für ARD und ZDF angemessen seien – oder ob es nicht „Zeit ist, eine europäisch-demokratische Alternative zu schaffen“[11].

Technologische Optionen: Föderation und Offenheit

Ein öffentlich-rechtliches Netzwerk müsste nicht notwendigerweise eine komplett neue Plattform sein, sondern könnte auf föderierte und offene Technologien setzen. Ein populärer Ansatz ist das Fediverse: ein Zusammenschluss dezentraler Netzwerke, die über offene Protokolle (z.B. das W3C-Standardprotokoll ActivityPub) miteinander kommunizieren. Mastodon. Der Europäische Datenschutzbeauftragte beschreibt es als „ein Set aus föderierten sozialen Medien-Plattformen, die unabhängig voneinander sind, aber dank offener Protokolle interoperabel arbeiten“[12]. Das heißt: Nutzerinnen melden sich an einem Server (einer „Instanz“) an – etwa einer Mastodon-Instanz – können aber trotzdem mit Nutzenden auf anderen Instanzen in Kontakt treten, ähnlich wie E-Mails unterschiedlicher Anbieter interagieren oder gar föderierten Weblogs (wie z.B. jetzt schon meinem Microblog (hier) auf Mastodon.art folgen zu können) [13][14].

Technisch ermöglicht dies hohe Flexibilität und Souveränität. Open-Source-Software (wie Mastodon, PeerTube oder WordPress mit ActivityPub-Plugins oder das sich gerade in Entwicklung befindliche Ghost CMS) kann von Öffentlichen Anbietern selbst gehostet werden. So könnten etwa ARD- oder ZDF-Server mit offenen Protokollen kommunizieren, ohne Daten in das Netzwerk eines Silicon-Valley-Konzerns zu geben. Der heise-Autor Frank Schräer berichtet, dass durch die Twitter-Krise von 2022 und 2023 viele Nutzerinnen ins Fediverse abgewandert sind – etwa erlebte Mastodon im Herbst 2022 einen Schub, als Twitter-User in Scharen auswichen[14:1]. Sowie auch das andere freie Netzwerk Bluesky. Sogar neuere Dienste wie Threads integrieren sich inzwischen (teilweise) via ActivityPub – Meta nennt ActivityPub inzwischen das „E-Mail des offenen Netzes“[14:2]. Diese Entwicklung zeigt: Die Technologie existiert, um mehrere Plattformen zu verbinden.

Für ein öffentlich-rechtliches Netzwerk kämen verschiedene technische Modelle infrage. Kurzfristig könnten ARD/ZDF auf vorhandenen Plattformen (Mediatheken, Vereinsforen usw.) schrittweise Kommentar- und Interaktionsfunktionen einführen. Mittelfristig ließe sich diese Infrastruktur nach Empfehlungen von Wissenschaftlerinnen „auf alle Inhalte ausweiten und mit offenen Protokollen vernetzen, so dass Interaktionen über verschiedene Plattformen hinweg möglich werden“[7:3]. Langfristig könnte – bei klarer gesetzlicher Basis und Finanzierung – eine vollständig offene, dezentrale Architektur entstehen, die auch anderen gemeinwohlorientierten Akteuren als Plattform dient[7:4]. Kernpunkte wären dabei Offenheit und Transparenz: ZDF-Studie und Experten empfehlen, Software als Open Source bereitzustellen, Eigenproduktionen frei nutzbar zu machen und Algorithmen offenzulegen[15]. So wird sichergestellt, dass das System nicht nur technisch, sondern auch inhaltlich demokratisch kontrolliert bleibt.

Governance und Finanzierung

Ein Kernproblem ist die Finanzierung eines solchen Vorhabens. Die Vorschläge reichen von einem zusätzlichen Beitrag über den Rundfunkbeitrag bis zu Fördermitteln der EU. Die Grünen schlagen vor, das Netzwerk aus den bestehenden Beiträgen zu finanzieren, ohne zusätzliche Gebühren zu erheben – als neue „vierte Säule“ neben ARD, ZDF und Deutschlandradio[9:1]. Alternativ könnten EU-Förderprogramme (etwa im Rahmen der DSA-Fonds) Mittel bereitstellen. Entscheidend wäre, dass keinerlei Werbung geschaltet wird und keine Privatinteressen finanzielle Zugriffe ermöglichen. Die Campact-Petition fordert ausdrücklich „unabhängig von kommerziellen Interessen“ zu sein, also keine Werbung, keine Abhängigkeit von Investoren[1:5].

Auch die Gremienstruktur ist essenziell. Naheliegend wäre eine demokratische Kontrollinstanz ähnlich den Rundfunkräten, jedoch mit europaweiter Ausrichtung. Die SPD-Resolution spricht von einem „divers besetzten Netzwerkrat“ mit Vertreterinnen des EU-Parlaments, nationaler Parlamente, Gewerkschaften, Kirchen und Wissenschaft[2:2]. Campact und andere fordern zusätzlich einen zivilgesellschaftlichen Rat, der etwa die Regeln für Moderation und Faktenchecks überwacht[1:6]. Der offene Austausch über solche Governance-Modelle findet bereits statt: Auf Konferenzen wie der re:publica 2025 diskutierten Medienmacherinnen intensiv darüber, wie ein „europäisch-demokratisches Netzwerk“ aussehen müsste (siehe etwa das epd-Interview von Alexander Matzkeit)[11:1]. Wichtig ist auch die partizipative Einbindung der Nutzerinnen selbst – etwa über Bürgerräte oder redaktionelle Community-Formate – um Legitimität und Akzeptanz zu gewährleisten.

Fußnoten:


  1. Campact-Petition: Ein freies, faires und mehrsprachiges, öffentlich-rechtliches soziales Netzwerk in Europa ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎

  2. SPD Minden-Lübbecke: Öffentlich-rechtliches soziales Netzwerk schaffen ↩︎ ↩︎ ↩︎

  3. EU-Kommission: Commission opens formal proceedings against X under the DSA ↩︎

  4. Thierry Breton auf X: Twitter leaves EU voluntary Code of Practice against disinformation ↩︎ ↩︎

  5. Otto-Brenner-Stiftung: Journalismus in sozialen Netzwerken ↩︎ ↩︎ ↩︎

  6. DGAP: Germany - German Council on Foreign Relations ↩︎

  7. ZDF: Potenzialanalyse: Digitaler Public Value im ZDF ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎

  8. Malu Dreyer, ehemalige Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, ist die Vorsitzende des ZDF-Verwaltungsrats. Sie wurde am 1. Juli 2017 zu diesem Amt gewählt ↩︎

  9. ZDFheute: Nach Meta-Änderung: Grüne für Alternative zu Facebook & Co. ↩︎ ↩︎

  10. Campact-Petition: Ein freies, faires und mehrsprachiges, öffentlich-rechtliches soziales Netzwerk in Europa ↩︎

  11. re:publica 2025: Die Grünen fordern ein soziales Netzwerk der Öffentlich-Rechtlichen ↩︎ ↩︎

  12. Europäischer Datenschutzbeauftragter: European Commission on X ↩︎

  13. Mastodon-Dokumentation: Mastodon Documentation ↩︎

  14. Cashyy: Öffentlich-rechtliche Social-Media-Plattform: Grüne wollen Alternative zu Meta & Co. ↩︎ ↩︎ ↩︎

  15. ZDF-Gutachten: ZDF-Gutachten zu Digital Public Value ↩︎

Ressourcen

Warum ich Meta den Rücken kehre (und auf offene Alternativen setzen möchte)
Ich habe mich entschieden, Meta und alle zugehörigen Dienste wie Facebook, Instagram und WhatsApp hinter mir zu lassen. Diese Entscheidung ist kein spontaner Entschluss, sondern ein bewusster Schritt, um meine Werte mit meinem digitalen Verhalten in Einklang zu bringen. Seit Jahren betreibe ich meine eigenen Websites und hoste (ständig) Dienste
Ihr solltet kein X mehr nutzen!
Seit der Übernahme von Twitter durch Elon Musk und der Umbenennung in „X“ ist deutlich geworden, in welche Richtung sich die Plattform entwickelt. Schon Anfang 2024 zeichnete sich ab, dass es Musk in erster Linie um Einfluss und wirtschaftliche Interessen geht: Über tausend Mitarbeitende, die sich mit der Bekämpfung von