Apoptygma Berzerk — Stephan Groth: Vom EBM-Kassettenkind zum Genre-Chirurgen
Eine ausführlichere, provokante Biografie und Bestandsaufnahme — von den Anfängen bis heute.
Ich selbst war in den 2000er einen großteil meiner tanzenden Jugendzeit Teil der sogenannten "Schwarzen Szene", die für mich aber nicht aus Lacrimosa und Grufti bestand, sondern aus Depeche Mode Parties (als kleinsten gemeinsamen Nenner) und hartem EBM, weichen elekronischen Klängen und natürlich auch Weiberelectro. Das war die Zeit als ich VNV Nation, Apoptygma Berzerk oder auch Crüxshadows kennen lernte. Über mittlere soll es in diesem Artikel gehen.
Apoptygma Berzerk (häufig APOP oder APB) ist auf den ersten Blick die Geschichte eines Projekts, das sich von der rauen Elektronik der frühen 1990er zu stadion-tauglichen Hymnen und später wieder zu einem immerwährenden Neuaufguss seiner eigenen Vergangenheit wandte. Hinter dem Namen steht seit 1989 praktisch ein Kopf: Stephan L. Groth. Das macht APOP zugleich verwundbar für Schuldzuweisungen (»Sell-out!«) und unheimlich anpassungsfähig — denn wenn ein Kollektiv aus einem solch stabilen Zentrum besteht, ist Stilwechsel keine Zerreißprobe, sondern Kalkül. Im Folgenden: ein tieferer Blick auf alle Phasen, die Mythen um eine angebliche Black-Metal-Phase, die Kontroversen, die Platten, das Live-Phänomen und das heutige Geschäftsmodell um Groth.
Die Geburtswehen: Kassetten, Demos, EBM (1989–1994) — das Schlafzimmer als Kathedrale
Apoptygma Berzerk beginnt 1989 als Duett von Stephan Groth und Jon Erik Martinsen in Norwegen. Die erste Lebensphase ist typisch für die frühe Szene: Demo-Kassetten, eingeschränkte Mittel, eine DIY-Ästhetik, die sich in harten Sequencern und einem rauen EBM-Sound niederschlägt. Tracks wie das frühe „Ashes to Ashes“ (in verschiedenen Versionen) und die Demo Victims of Mutilation zeigen noch die Arbeitsweise einer „Bedroom-Band“: Lo-Fi-Produktionsästhetik, kalte Maschinenrhythmen, eine Aggression, die eher club- als radiokompatibel ist. Das Debütalbum Soli Deo Gloria (1993) ist in diesem Klangbild verwurzelt — und doch bereits reich an Melodien, die Groths späteres Händchen für hymnische Linien erahnen lassen.
Warum das wichtig ist: Viele spätere Konflikte zwischen „Altfans“ und „Neuanhängern“ lassen sich erst verstehen, wenn man weiß, wie roh und cluborientiert die Anfänge wirklich waren — und wie weit die spätere Entwicklung davon wegführen würde.
Gab es eine Black-Metal-Phase? — Klare Antwort: Nein. Aber: enge Verflechtungen.
Eine häufige Frage ist, ob APOP jemals eine echte Black-Metal-Phase hatte — vielleicht vor allem, weil Norwegen in den frühen 1990ern als Hort der Black-Metal-Kultur galt. Die kurze, präzise Antwort: Apoptygma Berzerk selbst war nie eine Black-Metal-Band. Stilistisch blieb das Projekt in den frühen Jahren klar im EBM/Synth-Bereich verhaftet. Es existieren aber wichtige personelle und szenische Überschneidungen: Musiker wie Anders Odden (bekannt aus der Death/Black/Metal-Szene, u. a. Cadaver und später ORDER, und gelegentlicher Live-Gitarrist bei APOP) haben zeitweise mit Groth gearbeitet oder live gespielt — was zu Missverständnissen und Spekulationen führen kann. Anders Odden ist ein Beispiel für diese Brücken: ein Musiker, der zwischen Extremen (Metal) und elektronischen Projekten pendelte; seine Präsenz erklärt, warum manche Außenstehende Black-Metal-Parallelen hörten, obwohl sie nie die musikalische DNA von APOP wurden.
Hörbeispiel: Apoptygma Berzerk - Wrack 'Em To Pieces
Kurz gesagt: Keine schwarze Lederjacke als musikalische Kehrtwende, sondern einzelne Akteure mit Metal-Background, die APOP live oder als Gastmitglieder bereicherten — das prägt Klangfarbe und Image, ohne die Grundstruktur zu verändern.
Der Aufstieg in Klangfarben: 1995–2006 — hymnisch, radiofähig, polarisierend
Ab Mitte der 1990er wird Groths Produktion offener, größer, songorientierter. 7 (1996) legt die Basis für die Entwicklung, Welcome to Earth (2000) macht APOP einem breiteren Publikum zugänglich: größere Klangräume, eingängigere Melodien, Cinema-Ästhetik. Die Alben Harmonizer (2002) und You and Me Against the World (2005) sind stilistische Schlüsselwerke: Sie zeigen, wie Groth Pop-Hymnen mit elektronischer Kälte verbindet — und dabei eine Basis aufbaut, die sich live auch auf Festivals und in größeren Hallen behauptet.
Musikalisch bedeutet das: weniger knallende EBM-Drums, mehr Melodieführung, mehr Gitarrenreferenzen, mehr „Songwriting“ im klassischen Sinne.
Hörbeispiel Kathy's Song von Popteig
Die Folge: Chartplatzierungen, größere Tourneen, aber auch die erste Welle lauter Kritik: Aus dem Untergrund erklang das Etikett „verraten“. Für viele war APOP nicht mehr die dunkle Club-Maschine, sondern ein Pop-Akteur mit elektronischem Mantel. Für andere war genau das der Punkt: Groth schrieb nun Songs mit nachhaltiger Emotionalität, die außerhalb der Szene funktionieren.
Live als Metapher: Show, Besetzung, Inszenierung
Adäquate APOP-Konzerte sind keine puren Reproduktionsmaschinen der Platten; sie sind Inszenierungen. Groth arbeitete mit wechselnden Mitmusikern — APOP ist faktisch sein Projekt mit einer wechselnden Crew. Die Liveshows balancieren zwischen Club-Intensität (frühe Stücke) und Festival-Hymnen (spätere Songs), ergänzt durch Videoelemente, Lichtarrangements und gelegentliche Gastauftritte. Dieser Wandel schafft die Erfahrung, die Alben allein nicht leisten können: Die Band wird zu einem Chamäleon, das Bühnenräume skaliert — das technische und dramaturgische Selbstbewusstsein Groths ist dabei omnipräsent.
Diskographie — kommentierte Wegmarken (erweitert)
- Victims of Mutilation (Demo, frühe 1990er) — Rohmaterial, das die Szene erreichte.
TrackList: 1. Intro; 2. Ashes To Ashes; 3. Join The Troop; 4. Apoptygma; 5. Factory Of Death; 6. Apoptygma (Live)
- Soli Deo Gloria (1993) — Debüt, EBM-Wurzeln, später vielfach remastered/reissued. Ein Fundament.
- 7 (1996) — erste deutliche Öffnung zu größeren Klangflächen.
- Welcome to Earth (2000) — Breakthrough-Momente, hymnische Tracks, erweiterte Produktion.
Hörbeispielen Eclipse von Apop
- Harmonizer (2002) — Scheidepunkt: üppigere Arrangements, die Spaltung in der Fan-Community.
Hörbeispiel Until The End Of The World von Apoptygma Berzek
- You and Me Against the World (2005) & Rocket Science (2009) — klare Gitarren-/Indie-Einflüsse, weitere Kommerzialisierungstendenzen.
- Exit Popularity Contest (2016) — Reflexion, Archivpflege, Retrospektiven, weiterhin Aktivität.
Diese Liste ist bewusst kommentiert: die Alben sind nicht nur Releases, sie sind Marker von Entscheidungen — musikalischer, ästhetischer und karrierepolitischer Natur.
Die Kontroverse — künstlerisch, moralisch, emotional
Warum spaltet Groth noch immer? Die Debatte läuft entlang zweier Linien:
- Authentizität vs. Entwicklung: Altfans reklamieren einen Verlust an Dunkelheit, eine Verflachung der rhythmischen Härte. Die Gegenposition lobt Wachstum, Songwriting und das Herausholen elektronischer Musik aus dem Club in die Popkultur.
- Marktwirtschaft vs. künstlerische Integrität: Groth steuert sein Projekt wie ein kleines Unternehmen: Reissues, Remixes, Label-Arbeit (mehr dazu), Merchandising. Für Kritiker wirkt das kalkuliert; Befürworter sehen souveräne Selbstverwaltung — in einer Branche, die Künstlerschutz oft nicht belohnt.
Die Wahrheit liegt meist zwischen den Extremen: Groth ist sowohl Unternehmer als auch Künstler — und das eine färbt auf das andere ab. Dieser Pragmatismus erklärt, warum APOP bis heute Bestand hat.
Stephan Groth heute — Produzent, Labelchef, Kurator
Stephan Groth betreibt mit Pitch Black Drive nicht nur ein Label, sondern eher eine Produktionsschmiede: Studioarbeit, Reissues, Remaster, Betreuung von Veröffentlichungen, eigene digitale Präsenz. Pitch Black Drive fungiert als Zentrum für APOP-Releases, Archivpflege und gelegentliche Produktionen für befreundete Acts — eine Infrastruktur, die den Künstlern Kontrolle über ihr Material lässt. In den letzten Jahren ist Groth weder in Rente noch in Selbstzweifeln verschwunden: er remastered frühere Werke, betreut Jubiläumsausgaben (u. a. Soli Deo Gloria-Reissues) und bleibt aktiv auf Bühne und in der Produktion.
Wichtig: Das ist kein Rückzug, sondern eine andere Phase: weniger wildes Experimentieren als strategische Pflege — das erklärt Neuveröffentlichungen, Boxsets und die sorgfältige Auswahl von Live-Setlists.

Was bleibt musikalisch und kulturell? — Bilanz
- Songwriting als Konstante: Trotz Stilwechseln hört man Groths Gespür für Melodie und Dramaturgie in fast allen Phasen.
- Grenzen verwischen: EBM, Synthpop, Futurepop, Industrial und später Gitarrenrock — bei APOP sind Genres Werkzeuge, nicht Dogmen.
- Die Rolle des Managers-Künstlers: Groth steuert sein Projekt bewusst; das mag manchen als zu kalkuliert erscheinen, ist aber auch die Ursache für die Langlebigkeit der Marke.
Ein ehrlicher Blick: Kritikpunkte und Verteidigungen
Kritik: Einige frühe Hörer erleben die Entwicklung als Entfremdung; das Image verblasst, der Untergrund wird zum Mainstream.
Verteidigung: Künstler stagnieren ohne Risiko; Groths Mut zur Veränderung führte zu Songs, die außerhalb der Szene wirken — und das hat dem Projekt Dauer verschafft.
Beide Seiten haben Recht. Die Auseinandersetzung mit Groth ist weniger eine moralische Frage als eine ästhetische: Möchte man, dass eine Band für die Ewigkeit in einer einzigen Form verharrt — oder akzeptiert man Wandel als Teil einer längeren künstlerischen Biografie?
Fazit — Ein Chamäleon mit klarer Handschrift
Apoptygma Berzerk ist kein simpler Mythos von „Untergrundheiligkeit“ oder „Verkauf um jeden Preis“ — es ist die Fallstudie eines Projekts, das den Sprung aus kleinen Clubs in größere Arenen schaffte, dabei aber seine Wurzeln nie vollständig verleugnete. Stephan Groth ist der Motor: Musiker, Produzent, Labelbetreiber — ein Künstler, der verstanden hat, dass Kontrolle über das eigene Werk manchmal härter erarbeitet werden muss als ein Hit. Wer Groth dafür verdammt, hat vermutlich die Ambivalenz moderner Popkultur nicht zur Kenntnis genommen: Wandel ist riskant — aber oft auch das Einzige, was Bestand schafft.
Was macht Apoptygma Berzerk / Stephan Groth heute? — Stand: 28. Oktober 2025
Apoptygma Berzerk ist 2025 kein „inaktives“ Nostalgie-Projekt, sondern ein laufendes, vielschichtiges Unterfangen: Stephan L. Groth veröffentlicht weiterhin neue Musik, kuratiert Reissues, arbeitet als Produzent und betreibt seine kleine Label-/Produktionsinfrastruktur unter dem Namen Pitch Black Drive. Diese Aktivitäten sind weniger das hektische Touring einer Mainstream-Band als die Arbeit eines Musikers, der sein Schaffen aktiv verwaltet und immer wieder punktuelle musikalische Statements setzt.
Veröffentlichungen (Singles, EPs, Remixes, Kompilationen)
In 2024–2025 war APOP kontinuierlich mit Singles, Remixes und EPs vertreten: Beispiele aus 2025 sind u. a. die Single-/Remix-Veröffentlichungen Helter P.T.2 (Januar 2025) (Remix) sowie mehrere Digital-EPs und Compilation-Beiträge. Zudem betreibt Pitch Black Drive regelmäßige Veröffentlichungen, darunter compilations und kuratierte Releases, die sowohl neues Material als auch Remixes und Reissues bündeln. Diese Release-Aktivität zeigt, dass Groth das Projekt aktiv pflegt — nicht als reines Archiv, sondern als laufende Produktionsplattform.
Pitch Black Drive — Label / Produktionszentrale
Pitch Black Drive fungiert weiterhin als Zentrum für APOP-Veröffentlichungen und als Plattform für befreundete Acts: Bandcamp-Auftritte, Kuratierungen und kleinere Label-Releases sind regelmäßig zu finden. Groth nutzt dieses Vehikel, um Remaster, Sondereditionen und Kollaborationen zu steuern — also die Elemente eines Künstlerbetriebs, nicht nur die eines klassischen „Bands“. Das erklärt auch die Häufung von Reissues und kompilierten EPs in den letzten Jahren.
Produktion, Remaster, Kollaborationen
Neben eigenen Releases engagiert sich Groth als Produzent/Remixer für andere Projekte und sorgt persönlich für Remaster-Arbeiten älterer APOP-Alben. Dieses Produzentenprofil ist inzwischen ein fester Bestandteil seines Schaffens: Er mischt, remixt und kuratiert Material — also eher die Rolle eines musikalischen Kurators und Dienstleisters als ausschließlich die eines Frontmanns.
Live-Aktivitäten — punktuell, festivalorientiert, keine große Dauertour (aktuell)
Im Jahr 2025 sind keine großangelegten, durchgehenden Welt- oder Europatouren gelistet; stattdessen treten APOP bzw. Stephan Groth punktuell bei Festivals und ausgewählten Club-Gigs auf. Wer Live-Auftritte erwartet, sollte daher die offiziellen Kanäle prüfen: gelegentliche Festival-Bookings und Einzelshows kommen vor, eine dauerhafte Tourplanung scheint (Stand 28.10.2025) nicht im Fokus zu stehen.
Digitale Präsenz & Streaming
APOP bleibt auf allen großen Streaming-Plattformen präsent (Spotify, Apple Music, Bandcamp) — neue Singles und EPs erscheinen digital, oft begleitet von Bandcamp-Releases über Pitch Black Drive. Das Projekt setzt damit auf eine Kombination aus Streaming-Sichtbarkeit und direktem Verkauf über Bandcamp/Special-Editions.
Kurzfassung: Stephan Groth hält Apoptygma Berzerk 2025 aktiv — nicht als creatures-of-the-road-Tourmaschine, sondern als ein von ihm gesteuertes, vielschichtiges Musikprojekt: punktuelle Releases (Singles/EPs/Remixes), Label-/Produktionsarbeit via Pitch Black Drive, gelegentliche Live-Gigs und konsequente Pflege des Katalogs durch Reissues und Remasters. Wer aktuellste Release- oder Show-Infos will, lohnt sich ein Blick auf die Pitch Black Drive Bandcamp-Seite und die offiziellen APOP-Kanäle.
Ressourcen
- Offizielle Website von Apoptygma Berzerk
- Discogs: Apoptygma Berzerk Diskografie
- AllMusic: Apoptygma Berzerk – Biography & Discography
- Wikipedia: Apoptygma Berzerk (EN)
- Wikipedia: Stephan Groth
- Pitch Black Drive – Official Label & Shop
- Interview mit Stephan Groth (Side-Line Magazine, 2020)
- Release „Soli Deo Gloria“ (Reissue 2013) auf Bandcamp
- Metal Archives: Anders Odden – Biografie & Projekte
- Setlist.fm: Apoptygma Berzerk Live-Historie


Herr Montag ist Musikfreund, der sich gern mit der Erforschung ikonischer Künstler beschäftigt. Weitere Artikel finden Sie auf herrmontag.de.
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