Ein Spaziergang durch die aufwachende Morgenmetropole
Wie die Sonne melacholisch leuchtend auf Gründerzeithäuser und 120 Jahre Geschichte fällt, die Plätze in dunkles Gelb taucht und der Stadt langsam beim Aufwachen hilft. Seitdem sich die Welt wieder gedreht und die Sommersonnenwende ins Land gegangen ist, verschiebt sich auch der Blick des Lichts, wird dunkler und die Schatten länger, fällt das Licht in einer Melancholie auf die Erde, für die ich wahrscheinlich mindestens 35 Jahre alt werden musste, um sie fühlen zu können.
Ich spaziere in sommerlicher Leichtigkeitskleidung (und Badelatschen) durch die vor-siebenuhrige Morgenstadt und höre ihr beim Wachwerden zu, sehe Übriggebliebene der letzten Nacht, des letzten Wochenendes - des letzten Lebens - und beobachte, wie sich furchtlose Tauben herabfallende Krumen sichern.
Im Bahnhof riecht es nach Pisse, nichts menschliches bleibt diesem Ort aller menschlicher Kristallisation verborgen. Ist ihm fremd, wie man sagt.
Und meine Hand greift gedankenverloren nach dem Plastikbecher mit dem billigen Automatenkaffe, wobei der Automat immer freundlich ist und ein paar nette Worte übrig hat:
Ihr Kaffee ist fertig. Bitte entnehmen sie ihren Kaffee.
Der Kaffee ist nicht besonders gut, aber er ist da, verlässlich und konstant, wie die Stadt um mich herum. Ein Stück Normalität in einer Welt, die sich in einem ständigen Wandel befindet, so wie das Licht, das sich mit den Jahreszeiten verändert.
Gesenkte Blicke, vielleicht in Gedanken bei dem, was der Tag noch bringen wird. Oder Gedanken an das Kommende. An das Gehende? Die Müdigkeit steht ihnen ins Gesicht geschrieben, die Müdigkeit der Stadt. Weil eine Stadt nie wirklich schläft, immer in Bewegung ist, immer anstrengend – und doch etwas stiller in den frühen Morgenstunden, als würde sie für einen kurzen Moment den Atem anhalten, bevor der tägliche Sturm losbricht. Es ist diese unglaubliche Anonymität. All diese Menschen gehen vielleicht jeden Tag mit einander durch diese Welt, erkennen aber nur den vom Wahnsinn gepackten Clochard im Rinnstein wieder… weil er sich von der grauen Masse abhebt, nicht aber ihren tagtäglichen Nachbarn in der 6:13 Uhr Bahn gegenüber.
Mein Weg führt mich hinaus aus dem Bahnhof. Die Sonne steht tief am Horizont, wirft lange Schatten auf die Straßen und Gebäude. Die Leichtigkeit des Sommers und die Verheißung von etwas Neuem am Morgen, die in der Luft liegt, vermischt sich mit einer dunklen Melancholie. Mit einer Erinnerung an vergangene Tage, die sich ausbreitet wie Zigarettenrauch der in eine Flasche geblasen wird.