Talk Talk: Die Reise von den Charts in die künstlerische Freiheit und das Schweigen von Mark Hollis

Es ist die Geschichte von Mark Hollis und Talk Talk, es ist aber auch die Geschichte von David gegen Goliath, die Geschichte von künstlerischer Integrität und wie Talk Talk die Plattenfirma besiegte.

Talk Talk Vinyl Album Cover The Party Is Over
Talk Talk Vinyl Album Cover The Party Is Over (C) Jan Montag

Für viele sind Talk Talk die Band von "It's My Life" – ein eingängiger Synthie-Pop-Hit der 80er Jahre. Doch wer sich tiefer mit ihrer Geschichte beschäftigt, entdeckt eine der radikalsten und mutigsten künstlerischen Transformationen der Popmusik. Vom New-Wave-Versprechen zum stillen, einflussreichen Meisterwerk – und einen Frontmann, der sich am Höhepunkt seines kreativen Schaffens komplett aus der Öffentlichkeit zurückzog. Dies ist die Geschichte von Talk Talk und Mark Hollis.

Die Anfänge: Zwischen Duran Duran und künstlerischem Unbehagen

Talk Talk formierten sich 1981 in London um den Sänger und Songwriter Mark Hollis. Zusammen mit Lee Harris (Schlagzeug), Paul Webb (Bass) und Simon Brenner (Keyboards) wurden sie von ihrer Plattenfirma EMI gezielt als ernsthafteres Pendant zu Duran Duran vermarktet. Sie teilten nicht nur den Doppelnamen und den Produzenten Colin Thurston, sondern traten 1982 auch als Vorgruppe von Duran Duran auf.

Das Debütalbum "The Party's Over" (1982) war ein typisches Synthie-Pop-Produkt seiner Zeit, brachte mit "Today" und "Talk Talk" aber erste Charterfolge. Hollis fühlte sich in dieser Rolle jedoch nie wohl. Er war stark von Soul-Legenden wie Otis Redding sowie von experimentellem Jazz (John Coltrane, Ornette Coleman) und Prog-Rock beeinflusst. Genau meine Mischung 😍. Die oberflächliche New-Romantic-Welt war ihm zutiefst zuwider (die ich persönlich aber heute wieder völlig feiere, ich bin gern der alte Waveboy mit einem Weißwein in der Hand).

Die Wende zum Erfolg auf eigenen Bedingungen: "It's My Life" & "The Colour of Spring"

Mit dem zweiten Album "It's My Life" (1984) begann die Abnabelung. Nach dem Ausstieg von Simon Brenner stieß der Produzent und Keyboarder Tim Friese-Greene dazu, der Hollis' wichtigster musikalischer Partner wurde. Die Single "Such a Shame" wurde in Europa ein Riesenhit. Der ironische, die Lippenbewegung parodierende Videoclip zum Titeltrack zeigte bereits die rebellische Haltung der Band gegen die Marketingmaschinerie.

Der eigentliche Durchbruch kam 1986 mit "The Colour of Spring". Das Album klang organischer und vielschichtiger, setzte mehr auf Piano, Gitarren und echte Instrumente als auf Synthesizer. Hits wie "Life's What You Make It" und "Living in Another World" katapultierten die Band in die Top 10 der UK-Charts. Der finanzielle Erfolg dieses Albums war entscheidend: Er gab der Band das Budget und das Selbstvertrauen, ihren künstlerischen Weg ohne Kompromisse zu Ende zu gehen.

Der radikale Bruch: Die Geburt des "Post-Rock" und der Krieg mit EMI

Auf dem Flug nach der Tour 1986 verkündete Hollis seinem Manager Keith Aspden, dass Talk Talk nie wieder live spielen würden. Stattdessen zog er sich für über ein Jahr mit Friese-Greene und einer Schar von Session-Musikern ins Studio zurück. Das Ergebnis, "Spirit of Eden" (1988), war eine Sensation – und ein Albtraum für EMI.

Das Album bestand aus nur sechs langen, atmosphärischen Stücken, die aus Stunden von Improvisationen herausgefiltert wurden. Es war eine Mischung aus rockiger Spiritualität, Jazz und Ambient, ohne einen Hauch von kommerziellem Mainstream. Für Hollis war Stille genauso wichtig wie der Klang. Die Plattenfirma, die einen weiteren radiofreundlichen Hit erwartet hatte, war schockiert. Hollis weigerte sich, das Album live zu promoten oder zufriedenstellende Videos zu drehen. EMI verklagte die Band daraufhin, weil das Album "kommerziell unbefriedigend" sei – und verlor den Prozess.

Der Konflikt eskalierte, als EMI nach der Trennung von der Band die Kompilation "Natural History" (1990) und ohne deren Einverständnis das Remix-Album "History Revisited" (1991) veröffentlichte. Für Hollis, für den künstlerische Integrität alles war, war das eine unerträgliche Verletzung. In einem emotionalen Interview sagte er: "Das ist nicht ich, verstehen Sie? ... Menschen, denen ich nie die Zeit geschenkt hätte, arbeiten an etwas, das als ich ausgegeben wird... es ist widerlich." Die Band verklagte EMI erfolgreich.

Das letzte Wort: "Laughing Stock" und die Auflösung

Nach dem Bruch mit EMI unterschrieb Hollis bei Polydors Jazz-Label Verve. Hier entstand 1991 das letzte Album, "Laughing Stock". Es war noch reduzierter, zerbrechlicher und radikaler als "Spirit of Eden". Die Songs lösten sich fast vollständig von konventionellen Strukturen. Für viele Kritiker und Musiker ist es ein absolutes Meisterwerk und die eigentliche Geburtsstunde des "Post-Rock", der Bands wie Radiohead und Mogwai den Weg wies.

Kurz danach löste sich Talk Talk auf. Hollis zog sich, wie er sagte, zugunsten seiner Familie aus dem Musikgeschäft zurück und ward nie mehr gesehen. Ein Mysterium, das man nur so akzeptieren kann.

Das Leben danach: Soloprojekte und das große Schweigen

Die anderen Bandmitglieder blieben der Musik treu:

  • Paul Webb und Lee Harris gründeten die experimentelle Band .O.rang. Webb veröffentlichte später unter dem Namen Rustin Man ein vielbeachtetes Album mit Beth Gibbons von Portishead.
  • Tim Friese-Greene arbeitete als Produzent und veröffentlichte Musik unter dem Namen Heligoland.

Mark Hollis hingegen zog sich immer mehr zurück. 1998 erschien überraschend sein solo Debütalbum "Mark Hollis", eine konsequente Fortführung der Ästhetik von "Laughing Stock": intim, zurückgenommen, von purer Hingabe an den Moment geprägt. Danach trat er nur noch gelegentlich als Komponist für Filmmusik in Erscheinung. Er lebte zurückgezogen auf dem Land und verweigerte Interviews oder ein Comeback jeglicher Art. In einer Ära der Nostalgie-Tours und Reunions blieb er bis zuletzt konsequent. Mark Hollis starb im Februar 2019 im Alter von 64 Jahren.

Epilog: Das Vermächtnis

Die Geschichte von Talk Talk ist eine Tragödie und ein Triumph zugleich. Sie ist tragisch, weil ein brillanter Künstler wie Hollis sich von einer Industrie, die Kunst nur als Ware sieht, so entfremdet fühlte, dass er sein Talent komplett der Welt entzog. Sie ist triumphal, weil die Band unter immensem Druck ihren visionären Weg ging und dabei einige der zeitlosesten und einflussreichsten Alben aller Zeiten schuf.

Ihr Vermächtnis ist die unerschütterliche Überzeugung, dass künstlerische Integrität über kommerziellem Erfolg steht. In Hollis' eigenen Worten: "Die Stille ist das Wichtigste, was man hat. Ein Ton ist besser als zwei. Der Geist ist alles, und die Technik, obwohl sie wichtig ist, ist immer zweitrangig."

Ihre Musik ist kein simpler Zeitvertreib, sondern eine Einladung zum Hinhören, zur Kontemplation – ein ruhender Pol in einer lauten Welt. Das ist das wahre "It's My Life" von Talk Talk.


Jan Montag ist Musikfreund, der sich gern mit der Erforschung ikonischer Künstler beschäftigt. Weitere Artikel finden Sie auf herrmontag.de.





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