This Boy Is Tocotronic

Ein Abend, der nachklingt: Tocotronic in der Kulturarena Jena
Gestern Abend öffnete sich über der malerischen Kulturarena in Jena ein Tor in eine Welt, in der Musik und Gedanken sich untrennbar verbinden. Zum einen deshalb, zum anderen weil es wirklich den gesamten Tag über dem beschaulichen Thüringen hier und dort, aber vor allem dauerhaft und ständig, geregnet hatte. Aber das nur nebenbei. Ich hatte meine Zweifel vor diesem Konzert – nach Golden Years, dem letzten Album der Band, das mich eher nachdenklich zurückließ, schien ein bisschen dieses unverkennbare Funkeln verloren. Doch was Tocotronic nun auf die Bühne zauberten, war mehr als nur Live-Musik: Es war ein Bekenntnis zur Lebendigkeit, zur Leidenschaft und zur unerschütterlichen Kraft des Diskurs Rock.
Datum: 12. Juli 2025
Ort: Im Zuge der Kulturarena Jena, Theaterhaus
Theaterplatz Jena (C) Maik Hensel
Schon beim ersten Gitarrenanschlag von Digital ist besser spürte man, wie Energie in der Luft knisterte. Das Publikum explodierte förmlich vor Begeisterung, als Tocotronic den Sound zur Waffe machten und uns alle in einen Wirbelsturm aus Riffs und Ideen zogen.
Im Vergleich zu Golden Years – das leise, nachdenkliche Album mit zarten Klängen – war dieser Abend ein Sturm aus Leidenschaft und Rock’n’Roll. Tocotronic haben ihr Funkeln nicht nur zurückgewonnen, sie haben es hell aufleuchten lassen. Und das ohne Rick McPhail der an diesem Abend mehrfach erwähnt wurde, das war nahbar und menschlich, das war schön. Ihr Gesamtwerk überstrahlt alles, denn sie bleiben unbequem, klug und zutiefst lebendig.
Im Wechselspiel von Wut und Wehmut entfaltete sich ein Kaleidoskop altbekannter und neuer Hymnen:
- Der Tod ist nur ein Traum
- Bleib am Leben
- Digital ist besser (Opener‑Gänsehaut)
- Aber hier leben, nein danke (egal wie oft gespielt – noch immer ein Schauer über den Rücken)
- Gegen den Strich
- Sie wollen uns erzählen
- Denn sie wissen, was sie tun
- Wie ich mir selbst entkam
- Ich hasse es hier (Rock‑’n’‑Roll‑Explosion – das Publikum tobte)
- Bye Bye Berlin
- Ich tauche auf
- Golden Years
- Let There Be Rock (klassischer Rock-Gewitter‑Moment, kaum zu bremsen)
- Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen (dafür leben wir)
- Drüben auf dem Hügel (zarter, fast träumerischer Abschluss vor der ersten Zugabe, ein unglaublicher großer Song)
- Das Geschenk
Ich beobachtete, wie das Publikum jede Zeile mitsang, als wäre sie ihr eigenes Mantra. Die Band lächelte, tauschte Blicke, manchmal wussten sie fast selbst nicht, wie viel sie die Menschen hier bewegten. In diesem Moment wurde mir klar: Tocotronic sind nicht nur Chronisten unserer Zeit, sie sind auch ihr Puls. Ihre politischen Botschaften – leise oder laut – drangen direkt ins Mark. Wir brauchen diesen Diskurs jetzt mehr denn je, und Tocotronic liefern ihn mit einem Sound, der Herz und Verstand zugleich umarmt.
Jeder einzelne Track wurde mit einer Hingabe serviert, die man sonst nur von den größten Legenden kennt.
Zugabe 1: Adrenalin und Gänsehaut
- This Boy Is Tocotronic – ein kraftvolles Bekenntnis voller Spielfreude
- Hi Freaks – unmittelbarer Kultstatus
- Die Welt kann mich nicht mehr verstehen
- Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst – Ich euch auch!
Zugabe 2: Paukenschlag und Finale
- Explosionen als letzter Song und dann
- das Outro vom Band, Ingrid Caven: Die großen weißen Vögel – normalerweise das Ende eines jeden Tocotronic Konzerts, lässt mich diese Hymne der Seemannsbestattung immer völlig desolat zurück, so tief geht Carvens stimme.
Als alle dachten, es sei vorbei, kehrten Tocotronic noch einmal zurück: Freiburg erklang in besonderer Art und Weise – und es war Gänsehaut in Reinform. Die Band spielte und dann verschmolzen irgendwie die Akkorde in ein liebevolles Cover von “Music is the Healing Force of the Universe”. Ein Augenblick, der nachklingen wird.
Am Ende, als auch diese letzten Akkorde verklangen und ein besonderes Murmeln und stummes Nachdröhnen über die Arena fiel, wusste ich: Das Gesamtwerk dieser Band überstrahlt alles. Nicht, weil jede Platte perfekt ist, sondern weil Tocotronic immer weiterfragen, immer weiterspielen und dabei immer wieder Neues entdecken. Sie bleiben unbequem, klug und voller Herzblut – und genau das macht sie zu einer der großen Live-Bands unserer Zeit. Wir brauchen Diskursrock, wir brauchen intellektuelle Musik gegen rechte Hetze (aber niemans mit Gewalt)
Noch lange werde ich die Hitze der Scheinwerfer spüren, den kaputten Nachhall wilder Gitarren in meinen Ohren, das gemeinsame Schreien von Band und Publikum.
Wir sollten alle mehr Tocotronic wagen!




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