Mit Golden Years legen Tocotronic ihr 14. Studioalbum vor – und wer die Band seit ihren frühen Tagen verfolgt hat, erkennt sofort, dass hier eine lange Entwicklung ihren vielleicht endgültigen Abschluss gefunden hat. Die rohen, verzerrten Gitarren, die Anti-Hymnen gegen die Trägheit der Welt, das störrische Unangepasstsein: Das alles ist längst einer reflektierten, fast kontemplativen Musikalität gewichen. Doch die Frage, die Golden Years aufwirft, ist eine entscheidende: Ist das noch ein radikaler Entwicklungsschritt oder der endgültige Abschied von jeder musikalischen und inhaltlichen Reibung?
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Ein Blick zurück: Vom Schrammeln zur Perfektion
Wer Tocotronic in den Neunzigern kennenlernte, bekam eine Band zu hören, die den Sound der Hamburger Schule mit rohem Gitarrenspiel und lakonischen Texten prägte. Digital ist besser (1995) war keine musikalische Revolution, aber ein Manifest: Drei junge Männer, die mit scheppernden Akkorden und Texten über Einsamkeit, Popkultur und die Dummheit der Welt ihre eigene Haltung formulierten. Auch Nach der verlorenen Zeit (2000) oder Kapitulation (2007) zeigten eine Band, die sich mit jedem Album neu erfand, ohne sich anzubiedern.
Warum haben Tocotronic damals den Comet abgelehnt? (toggle)
Auf der Popkomm sollte der Band der Comet (Musikpreis des TV-Senders VIVA) in der Kategorie Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben verliehen werden. Die Band lehnte den Preis jedoch mit der Begründung ab: „Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Und wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein.
Doch irgendwann vollzog sich ein Wandel: Der Noise wich durchkomponierten Soundlandschaften, die Ironie schwand zugunsten von Poesie, die Wut wurde zu Melancholie. Besonders seit Das rote Album (2015) klang Tocotronic wie eine Band, die sich endgültig vom Stigma des Indierocks befreien wollte. Und auf Nie wieder Krieg (2022) war klar: Diese Band geht keine Kompromisse mehr ein – allerdings auch keine Risiken.
„Golden Years“: Eine musikalische Beruhigungspille?
Musikalisch ist Golden Years bis ins Detail ausgearbeitet. Die Gitarren sind weich, die Arrangements warm, von Lowtzows Gesang ruhiger denn je. Die Instrumentierung ist ausgefeilt, mit viel Raum für Hall und subtile elektronische Nuancen.
Doch genau hier stellt sich die Frage: Wo ist die Dringlichkeit geblieben? Wo ist die Unruhe, die Tocotronic über Jahre so spannend machte? Wo ist das Gefühl, dass diese Songs mussten, weil es keine andere Möglichkeit gab? Es ist ein Sound, der zweifellos schön ist, aber manchmal auch eine gefährliche Nähe zur Beliebigkeit hat.
Es gibt Momente, in denen Golden Years fast zu glatt wirkt – als hätte sich Tocotronic endgültig in einen Sound eingeigelt, der keine Überraschungen mehr zulässt. Während Alben wie Pure Vernunft darf niemals siegen (2005) oder Kapitulation (2007) immer noch eine gewisse kantige Sperrigkeit bewahrten, ist Golden Years ein Album, das eher fließt als fordert.
Texte: Poesie oder Bedeutungslosigkeit?
Dirk von Lowtzow ist zweifellos einer der prägendsten deutschen Songtexter der letzten Jahrzehnte. Seine Wortspiele, sein Gespür für das Unausgesprochene und seine melancholischen Beobachtungen sind legendär. Doch genau hier stößt Golden Years an eine Grenze: Wenn die Musik so weich wird, können die Texte das noch tragen?
Viele Zeilen auf Golden Years klingen wunderschön – doch sie haben nicht mehr die Dringlichkeit oder die Subversion früherer Werke. Während Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein (1995) oder Sag alles ab (1999) eine fast aggressive Klarheit hatten, sind viele Texte auf Golden Years abstrakte, sanfte Reflexionen. Sie funktionieren als Stimmungen, aber sie hinterlassen weniger Spuren.
Fazit: Schön, aber ungefährlich
Tocotronic sind an einem Punkt, an dem sie nichts mehr beweisen müssen – und vielleicht ist genau das das Problem. Golden Years ist ein elegantes, melancholisches Spätwerk, das sich warm und vertraut anfühlt. Doch es ist auch ein Album, das kaum noch Widerstände bietet. Es ist angenehm – aber war Tocotronic jemals nur angenehm?
Für langjährige Fans ist Golden Years eine Bestätigung: Ja, Tocotronic existieren noch, sie schreiben noch immer bedeutungsvolle Musik. Aber es ist auch ein Album, das wenig Neues wagt und vielleicht genau deswegen ein bisschen zu glatt wirkt.
Vorerst letztes Tocotronic Album? (toggle)
Am 1. Oktober 2024 gab die Band bekannt, dass ihr Gitarrist Rick McPhail eine Auszeit auf unbestimmte Zeit „aus persönlichen und gesundheitlichen Gründen“ genommen hat. Er war noch an den Arbeiten zu dem Album Golden Years beteiligt, das im Februar 2025 erschien. (STN)
Das Album bleibt auch nach der zigsten heavy Rotation noch zu beliebig, bisher hat mich kein Song berühren können, so wie mich beispielsweise "Drüben auf dem Hügel" jedes mal wieder berührt. Drüben auf dem Hügel hat eine Tiefe, die sofort ins Herz trifft – dieser poetische, melancholische Minimalismus, der trotzdem so eine Wucht hat. Es ist diese perfekte Balance aus Melodie, Text und Atmosphäre, die Tocotronic in ihren besten Momenten ausmacht.
Golden Years scheint dagegen eher sanft an einem vorbeizuziehen. Vielleicht fehlt genau dieses eine Lied, das alles bündelt, ein Song, der richtig trifft und hängen bleibt. Oder diese gewisse Dringlichkeit, die Drüben auf dem Hügel so einzigartig macht.
Titelverzeichnis
- Der Tod ist nur ein Traum
- Bleib am Leben
- Golden Years
- Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal
- Denn sie wissen, was sie tun
- Mein unfreiwillig asoziales Jahr
- Niedrig
- Vergiss die Finsternis
- Wie ich mir selbst entkam
- Bye Bye Berlin
- Der Seher
- Ich schreib jeden Tag einen neuen Song