Townes Van Zandt: Der vergessene Poet der amerikanischen Musik
Der Versuch eines Porträts dieses tragischen Songwriters, der die Seele der Country-Musik neu erfand
Einleitung: Das Phantom der amerikanischen Musikgeschichte
Es gibt Künstler, deren Einfluss so tief und gleichzeitig so unsichtbar ist wie ein unterirdischer Fluss. Townes Van Zandt war solch einer – ein Songwriter, der von seinen Kollegen vergöttert, vom Mainstream ignoriert und von seinen eigenen Dämonen verfolgt wurde. Sein Leben war ein Geflecht aus Widersprüchen: Er entstammte einer wohlhabenden texanischen Familie, verbrachte aber einen Großteil seines Lebens in heruntergekommenen Motels und Trailern. Seine Songs wurden von Legenden wie Willie Nelson, Bob Dylan und Emmylou Harris aufgenommen, doch er selbst blieb zeitlebens ein Geheimtipp.
An seinem 80. Geburtstag im Jahr 2024 und mehr als 25 Jahre nach seinem Tod am 1. Januar 1997 wirkt sein Vermächtnis stärker denn je. Dieser Artikel ist eine Hommage an einen der größten Songwriter des 20. Jahrhunderts – ein Mann, der die Country- und Folk-Musik nachhaltig prägte und dessen Leben so tragisch und mysteriös war wie seine Lieder.
Frühes Leben und prägende Jahre
Kindheit zwischen Privileg und innerer Leere
John Townes Van Zandt wurde am 7. März 1944 in Fort Worth, Texas, in eine Familie hineingeboren, die zum festesten Establishment des Staates gehörte. Die Van Zandts waren texanische Aristokraten: Sein Ur-Ur-Urgroßvater, Isaac Van Zandt, war nicht nur ein prominenter Führer der Republik Texas, sondern auch eine Figur, nach der sogar ein County benannt wurde. Das Familienvermögen, begründet durch eine erfolgreiche Anwaltskanzlei und lukrative Ölinvestitionen, sicherte ein Leben in Saus und Braus. Doch hinter der Fassade aus Herrenhäusern und Country Clubs verbarg sich ein zutiefst verstörtes Kind.
Die geschäftlichen Verpflichtungen des Vaters, Harris Van Zandt, einen wohlhabenden Anwalt für Gesellschaftsrecht, erzwangen ständige Umzüge zwischen Texas, Minnesota, Illinois und Colorado. Für den jungen Townes bedeutete dies eine entwurzelte Existenz. Er besuchte sieben verschiedene Schulen und entwickelte nie ein Gefühl von Zuhause oder dauerhaften Freundschaften. Diese ständige Unruhe nährte eine frühe innere Leere, eine Melancholie, die sich schon in seiner Jugend als tiefe Schwermut manifestierte. Er war ein Einzelgänger, der sich eher für die Einsamkeit der weiten Texanischen Landschaft begeisterte als für die Privilegien seiner sozialen Klasse.
Der entscheidende Moment: Elvis und die Gitarre
Weihnachten 1956 war ein scheinbar gewöhnliches Fest in einem wohlhabenden Haushalt. Die Gitarre, die Townes von seinem Vater geschenkt bekam, war zunächst nur ein weiteres Objekt unter vielen. Sie blieb wochenlang weitgehend ungenutzt in der Ecke stehen. Der blasse, schlaksige Junge zeigte zunächst kein besonderes Interesse.
Die Zündung erfolgte, als er in jener schicksalhaften Nacht den 9. September 1956 vor dem Fernseher saß und Elvis Presleys ersten Auftritt in der Ed Sullivan Show verfolgte. Es war nicht nur die Musik, die ihn packte, sondern die archetypische Rebellion, die Elvis verkörperte. "Elvis hatte all das Geld der Welt, all die Cadillacs und all die Mädchen, und alles, was er tat, war Gitarre zu spielen und zu singen. Das hat mich schwer beeindruckt", erinnerte sich Van Zandt später. In diesem Moment erkannte er die Gitarre nicht als Instrument, sondern als Werkzeug der Befreiung – ein Weg, dem vorgezeichneten Pfad in die Geschäftswelt zu entfliehen und seiner eigenen inneren Stimme Ausdruck zu verleihen. Von da an wurde die Gitarre sein ständiger Begleiter.
Abgründe und die Zerstörung des Gedächtnisses
Die angebrochenen Dämonen holten ihn schließlich an der University of Colorado Boulder ein, wo er sich 1962 kurzzeitig für Wirtschaftswissenschaften einschrieb. Statt Vorlesungen zu besuchen, stürzte er sich in exzessive Trinkgelage, die weit über das übliche Studentenmaß hinausgingen. Es waren erste, verzweifelte Selbstheilungsversuche einer sich zuspitzenden Depression. Seine Eltern, alarmiert von seinen zerrütteten Zuständen, holten ihn nach Hause zurück und ließen ihn 1963 in der University of Texas Medical Branch in Galveston einweisen.
Die Diagnose lautete manische Depression, heute bekannt als bipolare Störung. Die Behandlung, die man für ihn als "richtig" erachtete, sollte sich jedoch als katastrophal erweisen und sein Leben für immer verändern. Über einen Zeitraum von drei Monaten wurde er der damals state-of-the-art Insulin-Schock-Therapie unterzogen. Bei dieser heute als barbarisch geltenden Methode wurden dem Patienten hohe Dosen Insulin verabreicht, um ein hypoglykämisches Koma auszulösen, gefolgt von Elektroschocks. Das Ziel war es, das Gehirn "neu zu starten". Der tatsächliche Effekt war verheerend: Die Therapie löschte einen Großteil seines episodischen Langzeitgedächtnisses aus.
Stücke seiner eigenen Biografie, Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, waren für immer ausgelöscht. Seine Mutter, Dot Van Zandt, sagte später, ihre "größte Reue im Leben" sei gewesen, dass sie diese Behandlung zugelassen habe. Es ist in der Tat furchtbar, fast unvorstellbar. Diese traumatische Erfahrung schuf eine Art emotionalen Urknall in Van Zandts Psyche. Sie raubte ihm nicht nur Erinnerungen, sondern verstärkte auch sein Gefühl der Entwurzelung und die obsession mit Vergänglichkeit – Themen, die sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes songwriterisches Werk ziehen sollten. Aus der Zerstörung des alten Townes erwuchs, so tragisch das klingt, erst der Künstler, den wir heute kennen.
Wie furchtbar das ist, oder?
Townes Van Zandts künstlerische Entwicklung
Periode | Alben | Merkmale | Bedeutende Songs |
---|---|---|---|
Frühe Jahre (1968-1973) | For the Sake of the Song (1968), Our Mother the Mountain (1969), Townes Van Zandt (1970), Delta Momma Blues (1971), High, Low and In Between (1972), The Late Great Townes Van Zandt (1972) | Sein produktivstes Jahrzehnt, akustischer Folk-Country mit poetischen Texten | "To Live Is to Fly", "Pancho and Lefty", "If I Needed You" |
Mittlere Periode (1977-1987) | Live at the Old Quarter (1977), Flyin' Shoes (1978), At My Window (1987) | Zurück zum akustischen Sound, live aufgenommen, reduziertere Produktion | "Flyin' Shoes", "For the Sake of the Song" (Live) |
Spätwerk (1994-1997) | No Deeper Blue (1994) | In Irland aufgenommen, leicht folkloristischer Einfluss | "Cowboy Junkies Lament", "Marie" |
Townes Van Zandt - Our Mother the Mountain (Official Audio)
Musikalischer Werdegang
Die Anfänge in Houston
1965 begann Van Zandt regelmäßig im Jester Lounge in Houston aufzutreten, wo er 10 Dollar pro Abend verdiente. Nach dessen Schließung wurde der Sand Mountain Coffee House zu seiner Stammbühne (und zeitweise auch sein Zuhause). In diesen Clubs traf er auf andere Musiker wie Lightnin' Hopkins, Guy Clark, Jerry Jeff Walker und Doc Watson. Sein Repertoire bestand hauptsächlich aus Coverversionen von Hopkins, Bob Dylan und anderen, sowie auch schon eigenen neuartigen Songs wie "Fraternity Blues".
Die entscheidende Ermutigung
1966 ermutigte sein Vater Harris Van Zandt ihn, keine Covers mehr zu spielen, sondern eigene Songs zu schreiben. Townes selbst beschrieb diese Wende mit den Worten: "Eines Tages berührte mich Gott auf der Schulter und sagte: 'SOHN, SCHREIB DIESE SONGS!' Also tat ich es."
Durchbruch als Songwriter – für andere
Obwohl Van Zandt selbst zeitlebens ein Geheimtipp blieb, feierten andere Künstler große Erfolge mit seinen Songs. Willie Nelson und Merle Haggard nahmen 1983 "Pancho and Lefty" auf und erreichten Platz 1 der Billboard Country Charts. 2020 wurde ihre Version in die Grammy Hall of Fame aufgenommen. Emmylou Harris und Don Williams hatten 1981 einen Hit mit "If I Needed You", der Platz 3 der Country-Charts erreichte.
Die ungewöhnliche Beziehung zu Bob Dylan
Van Zandt und kein geringerer als Bob Dylan bewunderten sich gegenseitig. Dylan coverte "Pancho and Lefty" mehrmals im Konzert und schrieb in seinem 2002 erschienenen Buch "The Philosophy of Modern Song" über die Version von Nelson und Haggard sowie darüber, was für ein großartiger Songwriter er Van Zandt sei.
Doch obwohl Dylan Van Zandt mehrfach einlud, gemeinsam Songs zu schreiben, lehnte Townes stets ab. Wie seine Freundin Susanna Clark erklärte, bewunderte Van Zandt Dylans Songwriting, war aber nicht an der Berühmtheit interessiert, die ihn umgab.
Künstlerisches Vermächtnis und Einfluss
Die Kunst des Storytellings
Van Zandt selbst kategorisierte seine Songs einmal so: "Einige Songs handeln von Gefühlen, einige sind autobiografisch, einige sind Dinge, die man sagen will, und dann gibt es Geschichtensongs, die in keinem Bezug zu dir stehen und die irgendwoher hereintreiben."
William Hedgepeth schrieb 1977 über Van Zandts Lyrics: "Townes' Texte wirken wie Botschaften von außen, die sich nicht mit Ursachen befassen, sondern mit einsamen Leidenschaften und undefinierbaren Sehnsüchten. Obwohl sie melodisch und mit warmen Visionen durchwebt sind, trösten seine Songs nicht wirklich den Geist oder bieten irgendwelche Bestätigungen von irgendetwas - außer der Versicherung, dass es da jemanden gibt, der genauso allein im Kern ist, wie du dich selbst immer gefühlt hast." Und das meine Freunde, das finde ich wirklich tiefschwarz.
Die unverwechselbare Stimme
Anders als bei vielen Songwritern, deren Songs oft besser von anderen Interpreten gesungen werden, gilt bei Van Zandt: Seine eigene Stimme ist die, die man hören will. Es gibt eine Aufrichtigkeit in seinem Vortrag, eine Verletzlichkeit, die andere nicht imitieren können. Seine Stimme war bereits in seinen frühen Aufnahmen "spät", reif mit angesammelter Erfahrung; und seine echte Spätstimme klang zwar eingeschränkt, aber wärmer und von einem tieferen Blau erfüllt.
Die dunkle Seite: Dämonen und Tragödien
Leben am Abgrund
Van Zandts Leben war gezeichnet von psychischen Problemen, Drogen- und Alkoholabhängigkeit. Seine manisch-depressive Erkrankung wurde zeitlebens nie wirklich behandelt, nachdem die Insulin-Schock-Therapie mehr Schaden als Nutzen angerichtet hatte. Sie trieb ihn weg, was nachvollziehbar war, die schlechten Erfahrungen und seine Psyche suchten nach Ersatz und und Beteubung - der Weg für ein von Rauschmitteln gezeichnetes Leben war vorgezeichnet, aber nicht unbedingt selbstverschuldet.
1972, während einer besonders dunklen Phase, nahm er ein Album mit dem Arbeitstitel "Seven Come Eleven" (Link) auf, das jedoch aufgrund eines Streits zwischen seinem Manager Kevin Eggers und Produzenten Jack Clement nie veröffentlicht wurde. Clement löschte die Masterbänder, aber Eggers schlich sich ins Studio und nahm sehr schlechte Aufnahmen der Songs auf einem Kassettenrecorder mit.
Bei Townes kam neben Schwierigkeiten immer auch extremes Pech dazu - für das er nur bedingt etwas konnte oder gar ändern.
Russisches Roulette und andere Legenden
Die Geschichten über Van Zandts wilde Jahre sind legendär. Sein Freund Steve Earle besorgte ihm eine Hütte, in der Van Zandt von 1975 bis 1977 ein Einsiedlerleben führte. Die Freundschaft wurde jedoch empfindlich gestört, als Van Zandt Earle zu einem Spiel Russisch Roulette aufforderte. Ungeachtet dessen benannte Earle seinen 1982 geborenen Sohn nach seinem Mentor: Justin Townes Earle. Über Townes Earle könnte man eine ganz eigene, tragische Geschichte schreiben, denn dieser starb bereits Am 20. August 2020. Er wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden, nachdem Freunde die Polizei alarmiert hatten, da sie seit mehreren Tagen nichts mehr von ihm gehört hatten. Die örtliche Polizei geht von einer Drogen-Überdosis als Todesursache aus (Link).
Man könnte behaupten, tragisch wie sein Namensgeber.
Der tragische Tod
Townes Van Zandt starb am 1. Januar 1997 - genau 44 Jahre nach seinem Idol Hank Williams - im Alter von 52 Jahren an Herzrhythmusstörungen, die durch Gesundheitsprobleme infolge jahrelangen Substanzmissbrauchs verursacht wurden. Eine Hüftoperation und Delirium tremens (ist ein medizinischer Notfall, der als schwerste Form des Alkoholentzugs auftreten kann) trugen zu seinem Tod bei.
Das späte Vermächtnis
Die Wiederentdeckung eines Genies
Obwohl zu Lebzeiten weitgehend ignoriert, erlebte Van Zandts Werk nach seinem Tod eine Renaissance. In den 2000er Jahren erschienen zwei Bücher, ein Dokumentarfilm ("Be Here to Love Me" (Link)) und zahlreiche Zeitschriftenartikel über ihn. Sein Freund Steve Earle veröffentlichte ein Tribut-Album mit dem Titel "Townes".
Einfluss auf nachfolgende Generationen
Van Zandts Einfluss erstreckt sich über Genregrenzen hinweg. Alternative Country, Singer-Songwriter und sogar Bands abseits der Country-Musik wie Mudhoney oder Tindersticks coverten seine Songs. Wie ein Interviewer einmal feststellte: "Erwähnt man Townes Van Zandt in bestimmten Musikerkreisen, erntet man jene ehrfürchtige Bewunderung, die usually Astronauten oder Nonnen vorbehalten ist."
Die essentiellen Townes Van Zandt Alben
- "The Late Great Townes Van Zandt" (1972) - Der titelgebende Albumtitel war "ein Witz", aber die Musik ist tödlich ernst. Enthält einige seiner besten Songs.
- "Live at the Old Quarter" (1977) - Für viele Fans das definitive Van Zandt-Album. Aufgenommen 1973 in Houston, zeigt es ihn solo vor kleinem Publikum.
- "Flyin' Shoes" (1978) - Das Titellied ist einer seiner bekanntesten Songs, das Album gilt als bestes seiner Spätphase.
- "No Deeper Blue" (1994) - In Irland mit irischen Musikern aufgenommen, sein letztes Studioalbum zu Lebzeiten.
Zitate von Townes Van Zandt
"There are only two kinds of songs; there's the blues, and there's zip-a-dee-doo-dah."
"I don't think you can ever do your best. Doing your best is a process of trying to do your best."
"I'd like to write some songs that are so good that nobody understands them. Not even myself."
"Aloneness is a state of being, whereas loneliness is a state of feeling. It's like the difference between being broke and being poor."
Schluss: Der unvollendete Song
Townes Van Zandt bleibt eine der rätselhaftesten und tragischsten Figuren der amerikanischen Musikgeschichte. Ein Songwriter von unvergleichlicher Tiefe, dessen Leben und Werk die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung umfasste – von der Verzweiflung bis zur Erleuchtung, von der Dunkelheit bis zum Licht.
Seine Songs sind zeitlose Meditationen über die conditio humana, die auch decades nach ihrer Entstehung nichts von ihrer Kraft und Wahrheit verloren haben. Wie er selbst einmal sagte: "Sorrow and solitude, these are the precious things / And the only words that are worth remembering."
Townes Van Zandt mag gegangen sein, aber durch seine Musik ist er unsterblich geworden – ein Geist, der weiterhin durch die Lieder wandert, die er zurückgelassen hat, und durch die Herzen derer, die sich von seiner Musik berühren ließen.
Herr Montag ist Musikfreund, der sich gern mit der Erforschung ikonischer Künstler beschäftigt. Weitere Artikel finden Sie auf herrmontag.de.
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